Ende gut
Wie die Sympathien in dem alten Gebäude in Manhattans Chinatown an diesem Abend verteilt sind, wird schnell klar. Als mit Illinois der erste Bundesstaat an Obama geht, brandet auch der erste Applaus auf. Es folgt Massachusetts – wieder an Obama, wieder Applaus. Als dann wie erwartet Tennessee an Mitt Romney geht, folgt auch in der Halle die erwartete Reaktion: „Buuuh“, rufen die, die es rechtzeitig für die ersten Hochrechnungen hergeschafft haben. Niemand ist hier für den republikanischen Kandidaten.
Denn ins DCTV haben die jungen Progressiven der Stadt zum „Drinking Liberally“-Abend geladen. Auffallend viele Männer tragen hier Pferdeschwanz und Karohemden, an denen „I only drink liberally“-Buttons prangen. Noch vor wenigen Stunden waren viele von ihnen an den Küsten der Region unterwegs, um von Sandy verwüstete Städte aufzubauen, im vergangenen Jahr campten sie auf dem Zuccotti-Park. Es herrscht ein wenig Müdigkeit, es war ein langer Tag und ein langer Wahlkampf. Es dauert, bis sich die Halle füllt. Wer kann, schnappt sich für ein paar Dollar ein Flaschenbier und ergattert einen der grauen Metallstühle.
„Das fängt doch ganz gut an“, sagt Justin Krebs, einer der Organisatoren des Abends nach den ersten Ergebnissen. Vor neun Jahren hat er die erste „Drinking Liberally“-Gruppe in New York mitgegründet. „I live like a Liberal“ steht auf seinem T-Shirt. Justin meint es ernst. Jetzt steht er am Ende des Raums und blickt auf die große Leinwand, auf der minütlich neue Hochrechnungen eingeblendet werden. Doch wirklich entspannen kann sich noch niemand. Vor allem Florida macht ihnen Sorgen. Als Mitt Romney dort das erste Mal mit wenigen tausend Stimmen führt, wird es still im Raum. „Bloß keine Neuauszählung“, flüstert ein junger Mann neben mir. Die Frage, für wen er sei, kann ich mir sparen. „Für den good guy, wie Du wahrscheinlich auch.“
Um 21.15 Uhr holt Obama Pennsylvania. Um 21.20 Uhr ist der Abstand in Florida auf gut 1000 Stimmen zusammengeschrumpft. „Neuauszählung“, rufen die Ersten. „Fucking Florida“ ein Anderer. Als um 21.28 Uhr überraschend Wisconsin, der Heimatstaat von Paul Ryan, an Obama geht, küsst sich vor mir ein junges Paar.
Einen Präsidenten Romney will sich hier niemand vorstellen. „Sandy hat uns eine Ahnung davon gegeben, wie es in Zukunft aussehen wird, wenn wir nichts gegen den Klimawandel tun“, sagt Josh Bolotsky. Der stämmige Amerikaner im Kapuzenpulli verwendet Schlagworte, die so gar nicht zur Agenda der Republikaner passen. „Wir müssen die Macht der Finanzmärkte brechen“ und „die Reichen müssen zurückgedrängt werden“. Aber jetzt muss erstmal diese Nacht überstanden werden.
Vorne auf der Leinwand zieht sich der Abend. Zu viel Bier, zu wenig Klahrheit. Immer wieder werden dieselben Ergebnisse eingeblendet, nur vereinzelt kommt noch Applaus auf, wenn jemand nicht mitbekommen hat, dass Elizabeth Warren den Senatssitz schon seit 20 Minuten sicher hat. Die meisten haben sich abgewendet, tippen auf ihre Smartphones ein und suchen dort nach interaktiven Wahlkarten und virtuellen Antworten. Es sei einfach weniger „Magic“ als vor vier Jahren, ruft mir Justin im Vorbeigehen zu.
Um Punkt 23 Uhr kommt Kalifornien und damit wieder Stimmung in die Halle. Natürlich geht der Staat wie erwartet an Obama, aber plötzlich steht da ein komfortabler Vorsprung auf der Leinwand, der hoffen lässt. Nur Fußball-WM ist schöner.
Dann plötzlich geht alles viel schneller als gedacht. Obama kann überraschend im Mittleren Westen punkten. Um 23.13 Uhr steht fest: Der 44. Präsident der USA heißt Barack Obama. Die trunkenen Liberalen um mich herum springen auf, umarmen sich, wahlmüde ist plötzlich niemand mehr. „Ab sofort sind alle Getränke einen Dollar billiger, zu Ehren unseres Präsidenten Barack Obama“, verkündet der Lautsprecher. „Ich bin wirklich überrascht“, sagt Josh Bolotsky.
Florida interessiert da schon niemanden mehr.
Change-Nostalgie in Harlem
Die Straßen von Harlem sind leer. Ein paar Passanten eilen durch die Kälte. Die Bars: leer. Vor den großen Fernsehern, die Wahlprognosen zeigen, sitzt kaum jemand. Egal mit wem man spricht, alle erzählen von früher: „Vor vier Jahren lagen sich die Leute auf der Straße in den Armen“, sagt der Besitzer des Fisch-Imbiss. „Vor vier Jahren war diese Veranstaltung ein Riesenerfolg“, sagt der Direktor des Schomburg Zentrums für Forschung zu Schwarzer Kultur, Khalil Gibran Muhammad. Er hat heute zur Wahlparty in das Forschungszentrum geladen, aber die meisten Plätze im riesigen Auditorium sind leer. In Harlem ist kaum jemand noch begeistert von diesem ersten schwarzen Präsidenten, der ihnen Hope und Change versprach – vor vier Jahren.
Romneys Siegesrede ist 1118 Worte lang
Es war der letzte Flug einer langen Wahlkampfreise, die Mitt Romney 16 Monate lang kreuz und quer durch Amerika geführt hat: von Pittsburgh nach Boston. Romney hat in den letzten Tagen viel gesprochen, viel gelernt – und dabei die wichtigste Waffe eines jeden Präsidenten verloren: seine Stimme. „Sorry“, krächzt er vor Reportern, „ich möchte jetzt lieber nicht mehr so viel sprechen.“ Schließlich wird er seine Stimme noch brauchen, heute Nacht, nach seinem großen Sieg.
Dass er die Wahl gewinnen wird, steht für den Republikaner längst außer Frage. Den gesamten Flug über habe er seine Siegesrede geschrieben, erzählt Romney mit letzter Kraft: genau 1118 Worte, kurz und bündig. Reden ist Silber, Schreiben ist Gold. Und falls er nicht gewinnt?
Nicht gewinnen ist für Romney keine Option. Also gibt es auch keine zweite Rede. Behauptet er jedenfalls. Und zeigt sich „sehr stolz über den eigenen Wahlkampf“. Gemeinsam mit seinen Leuten habe er alle Kräfte mobilisiert: „Wir haben bis zum Ende gekämpft – und wir werden gewinnen.“
Zum Inhalt seiner Rede möchte sich der selbst erklärte Sieger allerdings noch nicht äußern, schließlich wird in vielen Bundesstaaten noch gewählt. Und dann, in einem kurzen, klaren Moment der Wahrheit, scheint selbst Romney zu erkennen, dass das Rennen ums Weiße Haus womöglich doch noch nicht endgültig gewonnen ist. „In der Politik ist alles möglich“, sagt er leise. Und das klingt schon fast wie eine Drohung.
An der Basis
Das Wahllokal in Overtown hat fast schon geschlossen. Fast ausschließlich Afro-Amerikaner leben hier, es ist das ärmste Viertel Miamis, die Kriminaliätsrate ist hoch, die Arbeitslosigkeit auch. Es gibt kaum Geschäfte, stattdessen viele leerstehenden Gebäude. „Wir müssen aufpassen, wenn man von der Hauptstraße abbiegt, wird es hier richtig gefährlich. Grad gestern wurde hier einer erschossen,“ sagt die Fotografin Carmen Rodriguez, die mich begleitet. Sie hat hier viel fotografiert und kennt sich deshalb aus.
Vor dem Wahllokal haben die Menschen einen großen Lkw aufgebaut, aus Boxen wummert Hiphop. Die Menge klatscht und tanzt. Plötzlich kommt eine junge Frau auf uns zu. „Ihr gehört hier nicht her“, sagt sie. ‚“Wenn ich in euer weißes Viertel gehen will, hält mich die Polizei auf, nur dass ihr das wisst.“ „Ich weiß“, antwortet Carmen, „aber ich kenne hier viele Leute und wir wollen nur ein bisschen mit euch reden.“ „Die Leute hier reden nicht mit Weißen, denen könnt ihr so viele Fragen stellen wie ihr wollt“, sagt sie. „Ich bin nicht weiß, ich bin Kubanerin“, sagt Carmen.
Ein Dicker mit Megaphon bleibt stehen und sagt zu mir: „Du siehst aus wie eine Bush-Wählerin.“ „Wie bitte?“, sage ich. „Nur weil ich weiß bin? Ich kann Bush nicht ausstehen!“ Langsam wird es ungemütlich. Zum Glück kommt Kean Hardemon vorbei, der für den Kongress kandidiert. Ich frage ihn, was er ändern will, wenn er gewählt wird. „So gut wie alles“, sagt er. „Das hier ist echt ein schwieriges Viertel, der Osten von Miami ist reich, aber hier im Westen sind die Leute arm. Fast niemand hat hier Arbeit und die Kriminalität ist hoch. Wir brauchen mehr Jobs und vor allem: Hoffnung.“ Klingt nach einer fast übermenschlichen Aufgabe. Wie er das alles schaffen will, verrät er nicht.
Wir gehen weiter in einen kleinen Barbershop, den Willie Williams‘ Familie seit den 50er Jahren in diesem Viertel betreibt. Ja sagt er, in diesem Viertel gebe es viele Probleme. „Aber es gibt den Leuten Hoffnung, dass ein schwarzer Mann im Weißen Haus sitzt. Das zeigt uns, dass man es auch als Schwarzer zu etwas bringen kann.“ Für heute Abend ist in dem Viertel jedenfalls ein großes Fest geplant.
Geübt dank Sandy
Ich stehe hier ganz schön im Weg herum. Würde ich heute in diesem Land wählen dürfen, wäre das hier mein Wahllokal: Die Kantine der John D. Wells Junior High School in Brooklyn, New York. In dem Raum mit den bunten Kinderbildern stehen die Wähler Schlange. Sie haben Hunde dabei, Kinder toben herum, im Raum surrt das Gemurmel in vielen Sprachen.
Zwischen ihnen wuselt José Feliciano herum, er ist der Koordinator in meinem Bezirk. Seit 5 Uhr morgens ist er hier, seitdem ist er auf den Beinen. „Anstrengender Tag“, ruft er, als er an mir vorbei eilt. Er hat Turnschuhe angezogen, damit ihm die Füße nicht wehtun, und ein gelbes T-Shirt, damit man ihn von weitem sieht. Er spricht Englisch mit den Wählern und viel Spanisch, geduldig beantwortet er die immer wieder gleichen Fragen. „Wo ist meine Wahlkarte? Wie fülle ich das aus? Was soll ich unterschreiben? Brauche ich meinen Pass?“